Der alte Mann und das Pferd

(chinesische Legende)

Hoch auf dem Felsen, abgeschieden,
lebten der Alte und sein Sohn
in stiller Eintracht, wohlzufrieden.

…Da liefen den beiden das Pferd davon.

Der Nachbar, nachgeraumer Frist,
kam, den Verlust mitzubeklagen.

Da hörte er den alten fragen:

„Wer weiß, ob dies ein Unglück ist?“

Und bald darauf, im nahem Walde
vernahmen sie des Pferdes Tritt.

Das kam und brachte von der Halde
ein Rudel wilder Rosse mit.

Der Nachbar, schon nach kurzer Frist,
pries den Gewinn nach Menschenweise.

Da lächelte der Alte leise:

„Wer weiß, ob das ein Glücksfall ist?“

Nun ritt der Sohn die neuen Pferde.
Sie flogen über Stock und Stein,
ihr Huf berührte kaum die Erde…

Da stürzte er und brach ein Bein.

Der Nachbar, nach geraumer Frist,
kam, um das Leid mit ihm zu tragen.
Da hörte er den Alten fragen:

„Wer weiß, ob dies ein Unglück ist?“

Bald dröhnt die Trommel durch die Gassen.

Es ist die Kriegsproklamation.

Ein jeder muss sein Land verlassen.

Doch nicht des Alten lahmer Sohn.

Mascha Kaleko (1983), Heute ist morgen schon gestern

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